Überraschung

Das Vorwort

Das Leben hält jede Menge Überraschungen bereit. Auch für Journalisten, die rastlos von Termin zu Termin eilen. Als mir im Frühjahr 2017 angeboten wurde, Dr. Karlheinz Gierden, den ehemaligen Oberkreisdirektor des Landkreises Köln, den langjährigen Kölner Bankmanager und Politiker, zu befragen, erwartete ich ein Interview unter vielen.

 

Nun ja, der Mann hatte mit 91 Jahren sicher einen ungeheuren Erfahrungsschatz aus seinen Schlüsselpositionen in der regionalen Verwaltung, Politik und im Bankenwesen angesammelt. Er hatte im Landschaftsverband Rheinland gerade in der Kulturförderung über 30 Jahre lang Zeichen gesetzt. Dr. Gierden kennt die rheinische CDU seit ihrer Gründung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wie seine Westentasche. Er hat mit der Herausgabe seines Buches „Das Rheinland - Wiege Europas?“ an der Seite seiner Tochter Dr. Marion Gierden-Jülich 2011 auch seinen historischen Sachverstand bewiesen.

 

Aber sagt man leidenschaftlichen Juristen und Verwaltungsfachmännern nicht eher eine staubtrockene Ausdrucksweise und einen kuriosen Humor nach? Ich gebe zu: Ich war skeptisch.

 

Und dann kam schon beim ersten Interviewtermin mit diesem im Rheinland immer noch prominenten Mann das Aha-Erlebnis: Dr. Karlheinz Gierden, der einst über Hegel promovierte, bewies sich als springlebendiger Gesprächspartner. Und als Zeitzeuge, der aus dem Stand gut strukturiert und, immer wieder mit Beispielen und Anekdoten gespickt, lebhaft über fast ein Jahrhundert deutscher Historie und Politik berichten konnte. Im Frage- und Antwortspiel entwickelte sich in Dr. Gierdens großem, lichten Wohnzimmer rheinische Geschichte live.

 

Ebenso informativ wie unterhaltsam zeichnete dieser Mann auch seinen eigenen Lebensweg nach: wie es ein armer Schreinersohn ohne Beziehungen auch im vom Klüngel geprägten Rheinland bis zum Oberkreisdirektor, Bankchef und einflussreichen Politiker bringen konnte. Zudem kam bei Dr. Gierden die unverwüstliche Lebensfreude, Glaubensfestigkeit und Weltoffenheit des typischen Kölners zutage. Dieser Jurist entpuppte sich sogar als mit dem unverwechselbaren rheinischen Humor reich gesegnet.

 

Aus einem Gespräch wurden viele. Die Interviews wurden zum regelrechten Vergnügen. Hier und da verfiel der waschechte Kölner, wenn er etwas besonders farbig ausdrücken wollte, in seinen kölschen Dialekt. Und plötzlich reihte sich Interviewtermin an Interviewtermin. In der Recherche bewiesen sich alle Erinnerungen dieses 91-Jährigen als Fakten: Ein spannendes Buch entstand.

 

Ich gebe zu, mir lief es mehrfach kalt den Rücken herunter: Hier saß wirklich ein Augenzeuge des 1936 frenetisch gefeierten Besuchs von Adolf Hitler in Köln. Hier saß ein Mann, der erläuterte, warum er als Kind am Dom für den Diktator mit applaudierte. Und dann berichtete dieser Zeitzeuge auch, welche Gefühle ihn 1945 bei der Rückkehr in sein vollständig zerbombtes Köln befielen.

 

Hier ließ sich ein Mann, der noch als 18-Jähriger an die Front geholt worden war, im Rückblick auch auf die Frage nach dem Holocaust ein. Es gab in den Interviews kein Thema, das Karlheinz Gierden abblockte. Bereitwillig versuchte er auch selbst zu begreifen, warum er erst als Soldat erkannte, für welch ein verbrecherisches System er da verheizt werden sollte.

 

Andererseits begriff ich, die Nachgeborene, im Gespräch erstmals konkret, welche immensen Umwälzungen nach 1945 auf die junge Bundesrepublik zugekommen waren. Ich verstand, wie Verantwortungsträger wie Karlheinz Gierden an den dafür nötigen Schrauben gedreht hatten, damit die Neuerungen auch sozial verträglich liefen. „Macher“ wie Dr. Gierden haben dem Rheinland, haben gerade der vom Braunkohleabbau tief vernarbten Region rund um Köln das Gesicht gegeben, das sie heute als städtisches, industrielles und gleichzeitig Naherholungsgebiet prägt.

 

In Dr. Gierdens Zeit als Kulturpolitiker fallen Meilensteine der rheinischen Kultur wie der Aufbau des dezentralen  Rheinischen Industriemuseums, um nur eine weitere Station seines arbeitsreichen Lebens zu nennen. All das berichtet er in diesem Buch, als ob er für solche Mammutprojekte noch gestern die letzten Strippen gezogen hätte.

 

Die Allgegenwart des Karnevals gerade in der Millionenstadt Köln ist zum Greifen nah. Es treten alle die Prominenten der jungen Bundesrepublik und ihre ausländischen Gäste auf, die er als Oberkreisdirektor bei Empfängen im Brühler Schloss Augustusburg auch polizeilich schützen musste, seien es nun Adenauer, Lübke, Erhard, Helmut Schmidt oder die Queen und Charles de Gaulle. Hier erzählte einer der Männer und Frauen, die den Werdegang der Bundesrepublik im Rheinland entscheidend mit geprägt haben – in unermüdlichem Einsatz, der auch ein reiches ehrenamtliches Engagement umfasste und der fast keine Zeit für die Familie ließ.

 

Der alte Mann in seinem Frechener Wohnzimmer sparte aber auch nicht seine eigenen Niederlagen aus – und sah sie als glaubensstarker Katholik dann letztlich sogar als persönlichen Gewinn an. Plastisch schilderte Dr. Gierden zudem das, was in Parteien, Vereinen und Verbänden tagtäglich an strategischen Entscheidungsprozessen, aber auch an Scharmützeln und Intrigen läuft. Selten hat ein Mann, der über Jahrzehnte in der rheinischen Politik mitmischte, so offen über den Werdegang der CDU berichtet, die er ja selbst von Anfang an mit aufbaute.

 

Das Leben auch einer Journalistin hält jede Menge Überraschungen bereit. Die intensiven Interviews mit Karlheinz Gierden gehören für mich auf jeden Fall dazu. Mögen auch die Leser dieses Buches davon profitieren. Denn dieser so authentisch berichtende „Promi“ aus Frechen, der sich bei aller Sachlichkeit auch nicht schämt, Mensch zu sein, hat jeder Generation etwas zu erzählen.

 

Dr. Ebba Hagenberg-Miliu

Bonn im Oktober 2017

 

(Foto: Hans-Theo Gerhards)